Reichweite ist nicht alles
Audi setzt bei seinen Elektroautos bewusst nicht auf höchste Energiedichte und maximale Reichweite. Viel wichtiger für den Kunden ist im Alltag das schnelle Wiederaufladen. Doch dies verlangt den Entwicklern so einiges an Know-how ab.
Wohl kein Wort fällt im Dunstkreis der Elektromobilität so häufig wie dieses: Reichweite. Meist ist es die erste Frage, die Menschen stellen, wenn man ihnen ein E-Auto zeigt. „Wie weit kommt den der?“ Nicht Leistung und Beschleunigung, wie einst beim Verbrennungsmotor, stehen im Fokus, sondern einzig und allein die Reichweite. Für Neueinsteiger kann sie gar zum kaufentscheidenden Argument werden.
Ist Reichweite noch so wichtig?
Dabei ist Reichweite längst nicht alles, weiß man bei Audi. Die Kilometerangaben sind zwar oft ein schönes Marketing-Instrument, nach dem Motto „Je größer die Zahl, desto besser das Auto“, doch später im Alltag zählen häufig ganz andere Dinge. Zumal die Ladeinfrastruktur täglich besser wird und damit Reichweite mehr und mehr an Bedeutung verliert.
Wenn der leere Akku auf einer längeren Tour aber doch einmal an die Ladesäule zwingt, will man dort meist auch schnell wieder weg. Coffee & Go. Nichts ist dann nerviger, wenn es eine gefühlte Ewigkeit braucht, bis die Batterie wieder soweit gefüllt ist, um sein angestrebtes Ziel stressfrei zu erreichen.
Batteriegröße vom Auto abhängig
Audi hat sich daher die Themen Ladekomfort und Ladeperformance ganz oben auf seine Fahne geschrieben. Doch die Entwickler stehen vor einem Zielkonflikt. Die Autoabmessungen geben gewöhnlich eine bestimmte Batteriegröße vor. In diese will man natürlich so viel Energie wie möglich hineinpacken. „Aber den Akku wollen wir auch so schnell wie möglich wieder aufladen können“, sagt Dr. Bernhard Rieger, bei Audi in der Zellentwicklung in Gaimersheim tätig. „Je größer die Energiedichte ist, desto länger dauert das Laden“, so Rieger.
Mit seinem Team muss er daher tief in die Zellstruktur der Batterie einsteigen und das Verhalten der Lithium-Ionen beim Laden und Entladen ganz genau analysieren. Wo lagern sie sich Ionen zuerst ab? Versperren sie weiteren Ionen den Weg? Besteht dadurch vielleicht die Gefahr des Überladens? Passiert dies, altern die Zellen schneller, die Kapazität nimmt ab. „Es gibt ein Optimum aus Energiedichte und nachladefähiger Energie“, weiß Zellexperte Rieger. Wer diesen „Sweet-Spot“ findet, kann dem Kunden das beste Lade-Package mit auf den Weg geben.
Bei seinen Elektro-Modellen ist Audi dem Bestpunkt schon ziemlich nahegekommen. Die Zellen der 93 kWh großen Batterie im e-tron GT füllen sich unter Idealbedingungen mit bis zu 270 kW Leistung in nur 23 Minuten von fünf auf 80 Prozent. Als optimal wird allgemein eine Ladekurve angesehen, die die ersten 20 bis 25 Minuten möglichst waagerecht verläuft und erst dann allmählich abfällt. Diese Kunst beherrscht derzeit der Audi e-tron 55 sehr gut. Obwohl das SUV keine 800-Volt-Architektur wie der GT besitzt, sondern nur über ein 400-Volt-System verfügt und daher maximal nur mit 150 kW geladen werden kann, vertragen die Batteriezellen fast die volle Ladeleistung (140 kW) über die ersten 25 Minuten.
Nach einer halben Stunde ist der Akku damit zu 80 Prozent gefüllt, nach 45 Minuten komplett voll. Dieses Ladeverhalten an DC-Gleichstromsäulen gilt in der Branche als Benchmark.
Es wird mehr Bedarf geben
Maßstäbe möchte Audi auch mit seinen Lade-Lounges (charging hubs) setzen, gedacht für Kunden, die über keine eigene Wallbox verfügen, aber dennoch ein E-Auto fahren möchten. Der Anteil liegt heute bei 20 Prozent. Prognosen ergaben, dass in den nächsten fünf Jahren der Bedarf um das Dreifache steigt. „Daher müssen wir jetzt loslegen“, sagt der Strategie-Projektleiter Ewald Kreml. Das erste dieser speziell entworfenen Charging-Gebäude steht in Nürnberg, ein Piloteinrichtung, die laut Audi aber sehr gut angenommen wird. „Wir treffen den Kundennerv“, so Kreml, „über 60 Prozent sind Rückkehrer.“ An sechs Stationen lassen sich die E-Autos über HPC-Säulen (High Performance Charging) aufladen. Audi-Fahrer können diese sogar über ihre App auf dem Handy vorreservieren.
Einfach gehalten
Das Lounge-Gebäude ist so konzipiert, dass es nicht in den Baugrund eingreift. „Wir könnten es innerhalb von zwei Wochen wieder komplett demontieren“, sagt Kreml. Auch auf eine extra starke Stromversorgung der Stadt wurde bewusst vermieden. Tiefbaumaßnahmen waren tabu. Audi bedient sich schlicht aus dem lokalen Niederspannungsnetz, in diesem Fall ist es ein 200-kW-Kabel. Weitere 760 kW Ladeleistung kommen aus einem Speicher im Erdgeschoss der Lounge. Ihn versorgen zusätzlich Solarzellen auf dem Dach. Das Akku-Paket besteht aus 26 sogenannten „Second-Life-Batterie“, die aus Versuchs- und Prototypenfahrzeugen von Audi stammen. Wer jetzt denkt, das Kontingent aus diesen Fahrzeugen dürfte schnell erschöpft sein, dem entgegnet Ewald Kreml nur: „Audi hat mehr Versuchsfahrzeuge im Umlauf als Lamborghini Serienautos produziert.“
Nürnberg ist der Anfang. In Zürich steht ein Audi-Charging-Hub kurz vor der Eröffnung. Danach sind Salzburg und Berlin dran. Bis Ende 2024 sollen in Deutschland dann elf Lounges hinzukommen, stets in City-Nähe. Und man muss nicht unbedingt Besitzer eines Audi sein, um hier sein E-Auto mit Energie zu versorgen. Einziger Unterschied: Der Zugang zur Lounge bleibt Fahrern von Fremdfabrikaten verwehrt. Man verweilt im Raum davor. Wenigstens steht dort der Kaffee-Automat.
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