Erste Fahrt: Die neue E-Klasse (W213)

Generationen von ausgebildeten Sozial-Pädagogen haben auf ihr den Taxi-Schein gemacht. Und wenn der Buchhalter oder der Metzgermeister nach 350.000 km erneut beim Händler am Tresen standen, dann verschwand der Vorgänger gerne mal in Richtung Nordafrika, um dort die siebenstellige Kilometerangabe zu erreichen.  Mit dem W213 bringt Mercedes nun eine Generation in den Handel, die ein gänzlich neues Vertrauensverhältnis schaffen soll. Abseits der bekannten Tugenden. 

Die neue E-Klasse im ersten Fahrbericht

Blindes Vertrauen

Modellpflegen sind das eine. Business as usual für die Presse. Ein völlig neues Modell ist dagegen immer ein Großkampftag. Mit einer neuen Generation muss man sich mehr beschäftigen. Tiefer gehen. Es reicht nicht, einfach nur technische Daten zu verarbeiten und die Preise zu nennen. Im Falle der neuen E-Klasse ist zudem der Sprung derart gewaltig ausgefallen, eigentlich müsste die erste Testfahrt über eine Woche gehen, nicht über ein paar Stunden. Der Artikel müsste als das “neue Testament der Automobil-Fahrberichte” in die Geschichte eingehen. Denn dieses Mal haben sich die Stuttgarter mächtig angestrengt. 

blindes vertrauen

Vertrauen, Teil 1: Der Drive-Pilot

30 Sekunden gönnt einem der Drive-Pilot. 30 Sekunden lang darf man die Hände vom Lenkrad nehmen, nachdem die künstliche Intelligenz übernommen hat. Eine Stereo-Kamera nach vorne, mehrstufiges Radar für Kurz- und Langstrecken. Ultraschallsensoren und ein Nachschlag beim Thema Rechenpower. Der Aufwand, der betrieben werden muss, um den Menschen hinter dem Lenkrad zu entlasten, ist nicht unerheblich. Aber er lohnt sich. Nicht für die 30 Sekunden, sondern für das gute Gefühl, einen Beifahrer an Bord zu haben, der nie schläft, der nie müde wird, der nie abgelenkt wird. Der Drive-Pilot mag die Vorstufe zum autonomen Fahren darstellen, aktuell ist er jedoch noch ein Assistenzsystem zur Entlastung des Fahrers. Er erkennt die Tempolimits. Auch wenn der Fahrer nach 500 km nicht mehr aufmerksam war. Er warnt vor zu wenig Abstand, er hält die Spur, er überwacht den Raum um das gesamte Fahrzeug. Er spielt das fliegende Auge, er schaut 360° um das Fahrzeug. Es ist eine Funktion, die einen umsorgt wie ein großer Bruder. Und nach fünf Minuten auf der portugiesischen Autobahn vertraut man seinen Fähigkeiten. Nicht blind. Nicht ohne immer wieder die Hände an das Lenkrad zu nehmen, aber man vertraut seinen Talenten und man vertraut in seine Handlungen. 

Doch am Ende entscheidet immer der Fahrer. Und auch wenn die E-Klasse bis Tempo 210 im Drive-Pilot die Abstände sortiert, den Verkehr überwacht und den Fahrer entlastet, er ist kein Freifahrschein. Die Spur wechseln lassen? Man traut ihm die Aufgabe zu. Man vertraut ihm, während er es tut. Dazu reicht es, für zwei Sekunden auf den Blinker tippen und die E-Klasse wechselt die Fahrspur. Nachdem sie sich sicher ist, der Verkehr lässt es zu.

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Vertrauen Teil 2 – Der Diesel bleibt, noch.

Tesla macht es vor. Der Markt für eine Limousine mit feisten Akku-Reserven ist da. In den USA verkauft man bereits mehr Model S als Mercedes S-Klassen, BMW Siebener oder Porsche Panamera. Doch für die E-Klasse gibt es aktuell erst einmal ein neues Diesel-Triebwerk. Man will das gewachsene Vertrauen der Stammkunden nicht auf die harte Probe stellen.  

Der neue auf den Namen OM654 hörende Selbstzünder ist ein Streber. Leichter als der Vorgänger, kräftiger als der Vorgänger und dennoch sparsamer und effizienter als der Vorgänger. Den ersten Auftritt erhält die neue Motorengeneration als E 220 d – das kleine “d” ist damit zurück und steht für eine große Zukunft. Oder? 

Mercedes-Benz stellt klar: Die Zukunft wird mehr bieten als Benziner und Diesel. Zum Start der E-Klasse stehen zwei Diesel, drei Benziner und ein Plug-In Hybrid bereit. Dieses Angebot wird man zügig ausbauen. Der E220d tritt mit 194 PS und 400 Nm an. Die Benziner starten als Vierzylinder mit 184 PS ( E200) und 245 PS (E300) und darüber rangiert der E400, ein V6 Bi-Turbo-Benziner mit 333 PS und 480 Nm, zum Start nur als 4matic erhältlich.

Der zweite Diesel ist der Sechszylinder mit 3.0 Liter Hubraum im E350d und 258 PS, dazu kommen 620 Nm Kraft. Als einziges “alternatives” Triebwerkskonzept muss der E350e herhalten, ein Plug-In Hybrid auf dem bekannten und von uns bereits nachhaltig kritisierten Plug-In Antriebsstrang der Stuttgarter. Kritisch sehen wir dabei weder den Benziner mit 2 Liter Hubraum und 211 PS  oder den E-Motor mit 65 kW, sondern schlicht und einfach die Batterie mit nur 6 kWh Kapazität. Nach NEFZ soll man damit 32 Kilometer elektrisch schaffen, der Alltag wird die Batterie eher in 20 km leer lutschen. Nicht nur China verlangt für die passende Einstufung nun mehr Reichweite, auch der Kunde dürfte nur schwer zu überzeugen sein. Eine Refinanzierung des e im Namen? Kaum machbar. Effizienter und weniger belastend für den Geldbeutel, der neue E220d. Auch eine Taktik.

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E300, E350d, E220d, E350e, E400 4matic – Wir sind fünf Triebwerke gefahren

E350d: Von einem ersten Test der vier Antriebe wollen wir hier dennoch nicht sprechen. Teilweise weniger als 20 Kilometer in einer der Antriebsvarianten lassen nur wenig Rückschlüsse zu. Der E350d hat uns die längste Strecke begleitet. Sein sonorer Sechszylinder-Dieselsound passt wunderbar zur E-Klasse. Souverän. Kaum merklich nagelnd. Weit entfernt grummelt er sich zurecht. Gut gedämpft, absolut nicht aufdringlich, nur so laut, wie man ihn gerade noch benötigt. Für dieses typische E-Klasse Gefühl.

E220d: Er ist da schon deutlicher zu vernehmen. Seine 400 Nm werden, wie in aktuell allen neuen E-Klassen, über das Neunganggetriebe in Vortrieb gewandelt. Dabei gefällt der aktuelle Reifegrad der Neungangautomatik. Neun Gänge? Von den vielen Schaltvorgängen merkt der Fahrer kaum noch etwas. Verschliffen verwandelt die Automatik den Schub des Motors in Vortrieb. Faszinierend dabei, wie klein heute ein Dieselmotor sein kann, um dennoch souverän bei den knapp fünf (4.92m) Metern der E-Klasse zu wirken.

E350e: Der Plug-In Hybrid. Ja? Nein. Theoretisch alles gut. Wäre da nicht die zu kleine Batterie. Leise summend, frei von jedweder Vibration, nicht einmal entfernt summt und tickert ein Diesel, kein Benzin-Direktspritzer hämmert metallisch hart sein Lied. Nix zu hören. Und, 65 kW reichen völlig aus, um die E-Klasse durch den Stadtverkehr zu schieben. Leider endet das Spektakel viel zu früh. Wir sind mit einer vollgeladenen E-Klasse E350e gestartet, sechs Kilometer gefahren und hatten 13 km Restreichweite. Das ist leider der Alltag für den Plug-In Hybriden bei Daimler. Und damit wird man niemanden dazu bekommen, die Ladesäule ständig anzusteuern. Oder sich eine in die Garage zu bauen. Das alleine ist nur ein Argument in Richtung “d”. Zumal der neue “kleine” Diesel seine Sache gut macht.

E300: Und dann auch noch das. Was früher ein Zeichen für Erfolg war, ist heute auch nur ein Vierzylinder. Die ersten E300 waren Reihensechszylinder mit drei Litern Hubraum. Heute ist es ein Vierzylinder mit zwei Litern, harter Benzin-Direkteinspritzung und Turboaufladung. Das passt. Wenngleich beim Beschleunigen der Sound schon in Richtung Selbstzünder tendiert. Aber – spätestens wenn man die 245 PS einfordert, nervt der raue Vierzylinder mit dem Mangel seiner Zylinder.

E400 4matic: Damit wird die Sache dann schon richtig interessant. Mit dem druckvoll agierenden 333 PS Benziner wird die E-Klasse zu dem, was man sich unter “der E-Klasse” vorstellt. Eine Limousine von Welt, mit Sechszylinder. Zwei zügige Runden in Estoril waren damit möglich (auf unserer Facebook-Seite findet ihr das 360°-Video hierzu), der Druck des V6-Turbo reicht aus, um die mit rund 1.850 Kilogramm nicht ganz leichte Limousine leichtfüßig über das Geläuf zu wuchten. Beeindruckendes Ergebnis eines erfolgreichen Fahrwerks-Setups. Natürlich schiebt man den E400 schnell mal untersteuernd in die Kurve, wer sich aber ein wenig auf die Limousine einlässt, der schafft ein recht neutrales Eigenlenkverhalten und ganz ordentliche Kurven-Tempi.

Ganz egal, welcher Motor unter der Haube seinen Dienst verrichtet, in der Aufpreisliste sollte man den Haken bei der Air Body Control setzen. Die Mehrkammer-Luftfederung ist die ideale Partnerin für den Alltag. Souverän dämpft sie wilde Unebenheiten aus dem Bitumenband. Bändigt zackige Manöver auf der Autobahn, ohne deswegen unkomfortabel zu werden. Luftfederung? Ein “must have” der E-Klasse W213!

E300 Avantgarde, designo hyazinthrot, Macchiatobeige/Schwarz E300 Avantgarde, designo hyacinth red, macchiato beige/black E 300 Kraftstoffverbrauch kombiniert*: 6,6 l/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert*: 149 g/km.(*vorläufig) Fuel consumption combined*: 6.6 l /100 km; combined CO₂ emissions*: 149 g/km.(*preliminary)
E300 Avantgarde, designo hyazinthrot, Macchiatobeige/Schwarz

Teil 3: Irgendwie vertraut – Das Cockpit, viel S und C, vor allem aber ahh .. 

Natürlich hat jeder Hersteller so etwas wie eine Idee für das ideale Cockpit. Und natürlich übernehmen alle Fahrzeuge einer Marke dann genau diese Idee. Bei Mercedes teilen sich die C-, E-, und S-Klasse nicht nur die Plattform, sie ähneln sich jetzt auch im Innenraum massiv. Was – nach dem vielen Lob für die S-Klasse vor drei Jahren und der C-Klasse vor zwei Jahren – ja auch keine dumme Idee ist.

In der neuen E-Klasse – auch wieder optional und verdammt teuer – sollte man sich für die beiden hoch auflösenden HD-Displays in 12.3 Zoll entscheiden. Die damit umgesetzte virtuelle Cockpit-Landschaft wirkt modern und gefällt durch eine grafisch gelungene Umsetzung. Für einen Mercedes-Benz wirkt das alles schon fast zu jugendlich. Aber wer es klassisch und völlig unstylisch mag, der kann ja zur aufpreisfreien Basis-Anzeige des Cockpits wechseln. Örgs.

NFC, connect.me, Qi, Apple Car Play und Android

Nachdem die beiden Full-HD Displays bereits die Insassen flashen, wirft Mercedes-Benz gleich noch einen Schwung an Keywords hinterher. Ihnen gemein? Eine Botschaft. Das analoge Zeitalter ist Geschichte. Endgültig. Das Auto mit dem Handy öffnen? Machbar. Das Handy kabellos in das Auto integrieren und laden? Jetzt auch im Taxi No.1 möglich. Die Inhalte barrierefrei auf dem Multimedia-Display darstellen? Auch das. Stuttgart 2020 ist im Alltag angekommen.

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Teil 4: Vertraute Sorgen

Das wundervolle 84 LED-Multibeam-Licht (in Wahrheit sind es sogar 109 LEDs, die im Hauptscheinwerfer arbeiten), die Full-HD Display-Landschaft, der erste Schritt zum autonomen Fahren, die weltbeste Stereo-Anlage der Welt (Burmester 3D: 23 Lautsprecher, 1.850 Watt, Konzertsaal-Niveau), Remote Parking, die nahtlose Integration des eigenen Smartphones und wer es partout nicht anders will, schafft sogar bis zu 32 Kilometer rein elektrisch. Mercedes-Benz schenkt den Mitbewerbern mit der neuen E-Klasse mächtig ein. Aber das alles hat seinen Preis. Der Grundpreis von 45.303,30 € darf nur als Einladung gesehen werden, ab diesem Punkt den Geldbeutel so richtig zu öffnen.

Wie kaum ein Zweiter versteht es Mercedes-Benz, den Käufer zu verführen. Was jedoch mittlerweile auch zu absurden Strategien führt. So macht Mercedes-Benz zum Beispiel einen Rückzieher von der LED-only Strategie. Während man die aktuelle S-Klasse nur noch mit LED-Scheinwerfern bekommt und selbst der Vorgänger der E-Klasse nur mit LED in die Nacht leuchtete, setzt Mercedes-Benz in der neuen E-Klasse jetzt auf Halogen. H7. Unfassbar. Und um den mickrigen Serientank der E-Klasse (50l) auf wenigstens 66 Liter zu vergrößern, werden 59,50 € fällig. Absurd. Das ist im übrigen der gleiche Preis, der für eine Adapterkabel zum Verbinden des iPhones aufgerufen wird.

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Fazit: Blindes Vertrauen, mit Recht.

Ob auch diese Modelle der 10.Generation E-Klasse an die 600.000 km durch den Großstadt-Dschungel nageln und abertausende Geschäftsreisende glücklich machen? So taten es vor ja allem der W123 und W124 – wir werden es abwarten müssen. Klar ist aber: Nie zuvor sprang eine neue Modellgeneration derart in die Zukunft wie die neue E-Klasse von Mercedes-Benz. Der Drive-Pilot kostet noch einen unanständigen Aufpreis, wer ihn jedoch einmal getestet hat, wird nie wieder ohne wollen. Ob das für den Diesel auch gilt? Vermutlich. Aber nur so lange, bis Mercedes-Benz die Plug-In Hybride endlich ernst nimmt. 

Die neue E-Klasse in der Gesamtbetrachtung? Die Benchmark im Segment! Aber weniger hat man ja auch nicht erwartet, oder?

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