Wer hat an der Uhr gedreht? Der Microlino!

Retro-Designs und modernisierte Klassiker sollen den Verbrauchern die Angst vor dem Umstieg aufs Elektroauto nehmen. Kaum einer macht das konsequenter und besser als der Microlino – der nach fünf Jahren endlich reif ist für die Serie. Fast zumindest.

Bentley, Porsche, Mercedes – wer in Orten wir Zollikon oder Küsnacht in die Vorgärten der Villen schaut, der weiß, warum das Ufer des Züricher Sees in dieser Gegend gerne Goldküste genannt wird. Auch die Familie Ouboter hat hier ihren Platz. Schließlich ist Vater Wim der ungekrönte Kickboard-König, hat den Tretroller zum Lieblingsspielzeug der Hipster gemacht und mit in besten Zeiten bis zu 80.000 Micro-Scootern am Tag ein Vermögen verdient.

Doch auf seinem Parkplatz steht ein Auto, das hier nicht so recht her passen will: der Microlino. Gerade mal 2,50 Meter kurz, 1,50 Meter schmal und weniger Power als die Musikanlage eines Porsche Panamera ist er der Gegenentwurf zum Protz und Prunk. 

Isetta als Vorbild

„Unsere Autos sind zu groß, zu schwer und zu kompliziert – egal ob mit Verbrennungs- oder Elektroantrieb“, sagt der Visionär. „Bis zu 15 Elektromotoren allein für einen Sitz und 2.500 Kilo Technik, um 75 Kilo Mensch zu befördern – Verhältnismäßigkeit sieht anders aus“, schimpft der Endfünfziger und schaut verliebt auf sein Minimal-Mobil.

Zwar ist auch der Microlino etwas größer als die originale Isetta. Aber rund 500 Kilo sind eine Ansage, anders als beim Smart passen nicht zwei, sondern drei seiner Autos auf einen konventionellen Parkplatz und auch bei den Fahrleistungen ist Microlino dem Original näher als einem modernen Kleinwagen: Wo im Heck der Isetta ein Motorrad-Einzylinder mit 250 Kubik und 12 PS geknattert hat und gerade mal 85 km/h schaffte, surrt bei ihm ein E-Motor mit 20 kW/27 PS und einem Spitzentempo von 90 km/h. Dabei sollen die Lithium-Akkus mit 14,4 kWh für immerhin 200 Kilometer reichen.

Wer hat an der Uhr gedreht? Microlino
Innen geht es kuschelig eng zu

Mit seiner Predigt für die Abrüstung des Autos wärmt der Schweizer, der den Microlino gemeinsam mit seinen beiden Söhnen, dafür aber ohne das fremde Kapital von renditehungrigen Investoren, zum Laufen bringen will, geschickt eine alte Idee auf: Denn sein Microlino ist die ebenso schlichte wie sympathische Antwort auf eine Gesellschaft, die ihre automobile Freiheit im Überfluss lebt und deshalb viel zu viel Blech bewegt:

Kleinstwagen wie die Isetta, die ihm als Designvorbild diente, der Messerschmitt Kabinenroller und streng genommen auch der Fiat 500 oder der VW Käfer dagegen waren aus der Not der Nachkriegsjahre geboren. Einfach konstruiert und billig hergestellt, durften sie nicht viel kosten, wenn sie breite Schichten der Bevölkerung erreichen sollten. Ihre Motoren hatten deshalb gerade so viel Leistung, dass sie den fließenden Verkehr nicht behinderten, Komfort wurde klein geschrieben und auf der Ausstattungsliste mussten oft eine zweite Farbe oder allenfalls Heizung reichen. 

Minimal-Mobilität attraktiv machen

Doch das Rezept ging auf und ganze Nationen wurden damit wieder mobil. Messerschmitt zum Beispiel hat immerhin 30.000 Kabinenroller gebaut, die Isetta kommt auf über 160.000 Exemplare und der Käfer war nicht umsonst jahrzehntelang das meistverkaufte Auto der Welt. Diesen Erfolg der Minimal-Mobilität will Ouboter jetzt mit dem Elektrofahrzeug im sehr viel kleineren Maßstab wiederholen und predigt deshalb den Verzicht auf charmante Art – und kompensiert die Entbehrungen mit einer derart heiteren Grundstimmung, dass man sich am Steuer der Isetta ziemlich erhaben fühlt.

Wenn die Ouboters in ihrem wunderbaren Schweizerdeutsch mit englischem Management-Einschlag über den Microlino sprechen, dann beschwören sie damit nicht nur Erinnerungen an die Zeit des Wirtschaftswunders herauf, als die Isetta zur italienischen Antwort auf den VW Käfer wurde. Vieles von dem, was sie sagen, erinnert auch an die jüngere Automobilgeschichte, als schon einmal ein Schweizer angetreten ist, das Auto neu zu erfinden. Denn Slogans wie „Reduce to the Max“ oder „Life is simple“ erinnern verdächtig an das ursprünglich auch mal elektrisch gedachte Micro Compact Car des Swatch-Erfinders Nicholas Hayek, aus dem dann der Smart geworden ist.

Dieses Jahr bei der IAA dabei

Das Konzept für den Microlino hat freilich auch schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Denn der Blechzwerg geistert seit bereits fünf Jahren über die Messen, ist zwischenzeitlich vor allem zu Gunsten der Sicherheit noch einmal komplett überarbeitet worden und mit Tazzari und Artega haben die Schweizer auch schon zwei designierte Produktionspartner verschlissen. Doch jetzt soll es bald soweit sein: Auf der IAA in München wollen sie das Serienauto zeigen, kurz danach sollen zu Preisen ab 12.500 Euro die ersten Auslieferungen beginnen und ab 2022 wollen sie – wie beim Original – wieder in Italien- bis zu 10.000 Microlinos im Jahr auf die 13-Zoll-Rädchen stellen.

Dabei ist der Microlino streng genommen gar kein Auto – selbst wenn der Fahrer einen Pkw-Führerschein braucht. Konstruiert und zugelassen ist der Zweisitzer als ein Leichtfahrzeug der Kategorie L7E. Deshalb braucht er auch kein ESP und keine Airbags, die es allerdings bald als Option geben soll.

Deshalb darf er ohne Batterie nicht mehr als 450 Kilo wiegen. Und deshalb fährt er nicht schneller als 90 km/h, die sich in der Knutschkugel aber sehr viel flotter anfühlen. Erst recht, wenn die Schiebefenster ganz offen sind und das Faltdach nach einem Handgriff den Blick zum Himmel frei gibt. Zumal der Microlino vor allem für die Stadt gemacht ist, wo er flott im Verkehr mitschwimmt, an der Ampel immer vorne dabei ist und spätestens in engen Altstadtgassen oder bei der Parkplatzsuche ohnehin alle anderen aussticht. Denn er kommt nicht nur überall durch und um jede Ecke, sondern findet auch immer ein Plätzchen.

Moderne im Inneren

Aber nicht nur beim Antrieb gehen die Schweizer mit der Zeit, sondern auch beim Ambiente: Schon außen wagt eine LED-Leiste am Bug wie etwa bei den ID-Modellen von VW den Aufbruch, und wer nach dem Öffnen der Kühlschranktür erst einmal um die freistehende Lenksäule auf die breite, durchgehende Sitzbank geklettert ist, sitzt mitten im hier und heute. Schließlich prangt hinter dem Lenkrad ein digitales Cockpit und statt Schalter gibt es einen kleinen Touchscreen am Türgriff, der sich quer über den ganzen Bug zieht.

Wer hat an der Uhr gedreht?
Statt Schalter gibt es einen kleinen Touchscreen am Türgriff

Von außen ein Blickfang, innen modern eingerichtet, ein spritziges Fahrgefühl und Strom für bis zu 200 Kilometer – so wird der Microlino zum ersten Modell, mit dem die Kategorie der Kleinstautos endlich groß herauskommen könnte. Denn er ist lange nicht so teuer wie der Smart, man sitzt bequemer und fährt besser als im Renault Twizzy und er ist einem Auto viel näher als ein Citroen Ami mit seinen 45 km/h und der Wertanmutung eines zu heiß gewaschenen Stadtbusses.

Aber vor allem hat die Isetta 2.0 so viel Charme, dass man aus dem Lachen kaum mehr herauskommt. Der Fahrer nicht, weil er sich fühlt wie Gregory Peck, als er mit Audrey Hepburn auf der Vespa durch Rom kurvte, und die Passanten nicht, weil der Microlino mehr Kuschelsehnsüchte auslöst als jedes andere Auto seit der Wiedergeburt des Fiat 500.

“Knutschkugel”

Sympathie ist bei diesem Auto allerdings auch von Nöten – erst recht, wenn man sich zur Mitfahrt entscheidet. Denn eine gewisse Nähe ist bei diesem Format unvermeidlich. Gut möglich, dass deshalb auch die neue Isetta trotz ein paar mehr Ecken und Kanten den alten Spitznamen behält – und auch weiter als Knutschkugel firmiert.

Die Chancen für spontane Mitfahrten sind dabei nicht schlecht, kann Ouboter berichten. Denn so eitel und verwöhnt das Publikum in Zürich auch sein mag, stiehlt der Microlino jedem Maserati oder Mercedes die Schau: „Das Auto ist ein absoluter Womanizer, mit dem man bei den Damen besser punktet als mit jedem Sportwagen.“

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