Neues Mercedes-Design Studio in Nizza
Es sieht aus wie ein gläsernes U-Boot und es liegt an einer der schönsten Küstenabschnitte der Welt. Doch für die Reize der Côte d’Azur haben die Kreativkräfte im neuen Mercedes-Designcenter bei Nizza wenig Zeit. Denn sie haben gerade gut zu tun und ihre Arbeit ist wichtiger denn je.
Ja, sie bauen nach wie vor Autos und verdienen damit ganz ordentlich Geld. Doch wer seinen Arbeitgeber einen Automobilhersteller nennt, der springt für Gorden Wagener ein gutes Stück zu kurz. Denn Daimlers Chief Design Officer sieht Mercedes weniger als Fahrzeugbauer oder Mobilitätsanbieter denn als Luxus- und Designmarke auf dem Niveau berühmter Fashion-Labels. In Zeiten, in denen Technik immer austauschbarer wird, sich die Niveaus des Fortschritts angleichen und das Interesse an den physikalischen Eigenschaften eines Autos nachlässt, setzt er auf Lust, Leidenschaft und, ja, Liebe, die er mit ästhetischer und emotionaler Begeisterung schüren will. Es geht ihm um einen heißen Kern aus ultimativer Liebe zum Produkt, einer Hülle aus kühler Intelligenz und Forderungen nach Einfachheit und Nachhaltigkeit.
Das klingt so hochtrabend, dass man genügend Freiraum braucht, um solchen Gedanken Gestalt zu geben – mental, organisatorisch und auch räumlich. Und zumindest an letzterem hat es zuletzt ein wenig gemangelt im internationalen Netzwerk auf dem Planeten Daimler. Das Center daheim in Sindelfingen ist riesig und bietet allen Platz der Welt, das Studio in Peking ist neu und das in Carlsbad in Kalifornien zumindest relativ frisch renoviert. Doch die Villa am Comer See, in der die Schwaben vor allem die Interieurs von morgen gestaltet haben, platzte aus allen Nähten und an einen Um- oder Ausbau war wegen des Denkmalschutzes nicht zu denken.
Deshalb sind die Kreativen in den letzten Monaten umgezogen und haben ein neues Studio in Sophia Antipolis vor den Toren Nizzas in Betrieb genommen. „Mit dem neuen Design Center in Frankreich bauen wir konsequent die ‚kreativen Räume’ für unser weltweites Designnetzwerk aus. Die Ansiedlung der Design Center rund um den Globus bedeutet: Wir sind überall auf der Welt zu Hause und arbeiten und leben stets in der Zukunft“, freut sich Wagener.
Der Standort passt dabei gleich doppelt. Zum einen liegt die gläserne Röhre, die sie intern die „Nautilus“ nennen, in einem Gewerbegebiet, das Trendforschern als die europäische Antwort auf das Silicon Valley gilt und mit Digitalisierung, Vernetzung und der Suche nach der optimalen Benutzeroberfläche all die wichtigen Themen bedient, die über verführerische Formen hinaus bei den Designern auf der Agenda stehen. Und zum anderen ist Nizza fast mehr noch als Stuttgart die Wiege der Marke: Denn 1899 trat der in Nizza lebende Geschäftsmann Emil Jellinek erstmals bei Autorennen an der Côte d’Azur unter dem Pseudonym „Monsieur Mercédès“, dem Vornamen seiner Tochter Mercédès, an. Und als er kurz danach einen neuen Rennwagen in Stuttgart bestellte, ließ er den Namen erstmals an den Grill schreiben. Das hat den Schwaben offenbar so gut gefallen, dass die Daimler-Motoren-Gesellschaft „Mercedes“ 1902 als geschützte Marke registrieren ließ – und der Schriftzug seitdem zusammen mit dem Stern an jedem Auto prangt.
Genau wie die Autos, die hier einmal entstehen sollen, ist schon das Center an sich eine Schau: Der 50 Meter lange und 20 Meter breite Bau in Form eines Zylinders liegt eingebettet in einem Pinienwald; Beton und Glas dominieren in der klaren Architektur des Gebäudes. Dank einer Rundum-Verglasung werden alle Räume mit weichem, mediterranem Licht durchflutet – ideale Arbeitsbedingungen für Designer. Der Bau bietet auf über 3.000 Quadratmetern rund 50 Designern Platz für ihre Arbeit. Alle relevanten Disziplinen des Mercedes-Benz-Designs werden dort vertreten sein: von der klassischen Exterieur- und Interieurgestaltung bis zum Digital- und UI-/UX-Design, das in Zeiten von autonomem Fahren und Mensch-Maschine-Kommunikation immer wichtiger wird. Und obwohl auch die Arbeit der Designer zunehmend von der Digitalisierung bestimmt wird, gehört auch noch der gute alte Tonblock dazu: „Nur hier können wir Formen buchstäblich begreifen und spüren, deshalb werden wir aufs Modellieren sicher nicht verzichten“, sagt einer der Designer und schabt einen kühn geschwungenen Kotflügel aus einem bis dato formlosen braunen Klotz.
Überhaupt kann man den Stellenwert der Stylisten nicht hoch genug hängen, ist Wagener überzeugt: „Wir bewegen uns weg vom industriellen Design hin zur Automotiven Haute Couture. Denn nur eine ästhetische Seele ist der Schlüssel für langfristigen Erfolg von Luxusmarken.“ Was er damit meint, kann man nicht nur an der gerad enthüllten Designstudie Vision EQS sehen, mit der Mercedes die elektrische und nachhaltige und deshalb zukunftsfeste Luxuslimousine von Morgen definieren will. Als Sinnbild für diese Transformation hat er eigens zur Eröffnung des Studios ein weiteres Showcar aus dem Hut gezaubert und damit einem Auto die Ehre erwiesen, dass die PS-Welt schon vor bald 120 Jahren auf den Kopf gestellt hat: Dem Mercedes Simplex. Denn der von Jellinek in Auftrag gegebenen Wagen hat nicht nur die Konkurrenz bei den Bergrennen hinauf nach La Turbie in Grund und Boden gefahren. Er markiert auch den Abschied vom Kutschbau und hat dem noch heute gültigen Konstruktionsprinzip des Automobils den Weg geebnet. Und so, wie der Simplex damals das Bild vom Auto verändert hat, will uns Wagener von Nizza aus künftig wieder die Augen öffnen.
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