Tradition: 40 Jahre Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 (W 116)

Geboren wurde dieser Mercedes-Superlativ in einer Zeit, als andere Superautos gerade zu Grabe getragen wurden. Dem Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 gelang vor 40 Jahren, was den meisten seiner V8- und V12-Konkurrenten verwehrt blieb: Die bis dahin schnellste Stuttgarter Luxuslimousine punktete mit potentem Triebwerk und technischen Delikatessen, war prestigestark, aber protzfrei und erreichte so verblüffend hohe Verkaufszahlen. Entscheidend dazu beigetragen hat ein geschickt gestricktes optisches Tarnkleid für den in Tests über 23 Liter Super konsumierenden, 210 kW/286 PS starken V8. Wichtig, um so kurz nach der ersten Ölkrise öffentliche Provokationen zu vermeiden. Deshalb versteckte die Marke mit dem Stern ihre motorischen Kronjuwelen unter dem Großseriengewand der konventionellen und weniger als halb so teuren S-Klasse-Langversion.

Wer wie nicht wenige Käufer den Typenschriftzug 450 SEL 6.9 am Kofferraumdeckel abwählte, konnte quasi inkognito reisen. Ebenfalls ein Erfolgsgarant im Europa der 1970er Jahre. Gab es damals doch einen sozialpolitischen und gesellschaftlichen Wandel, der es in vielen Ländern kaum mehr möglich machte, Luxusprodukte öffentlich zu zeigen. Ein Trend, der schnellen Luxus-Limousinen wie Iso Fidia, Maserati Quattroporte II, Monica 560, oder Monteverdi High Speed 375/4 letztlich zum Verhängnis wurde. Einzig Aston Martin Lagonda und De Tomaso Deauville konnten bestehen, erreichten aber gerade einmal zwergenhafte acht Prozent der Produktionszahlen des Stuttgarter Sternenkreuzers, wurden doch vom Mercedes 450 SEL 6.9 stolze 7.380 Einheiten in vier Jahren verkauft. Was im Vergleich zur 473.000 Einheiten betragenden Gesamtauflage der S-Klasse-Baureihe W 116 winzig wirkte, machte den 6.9 in seinem Wettbewerbsumfeld zum Superstar.

Ein Stern, der sogar die ambitionierten Ziele der Stuttgarter übertraf. Um der Nachfrage gerecht zu werden, musste Mercedes schon kurz nach Marktstart die zunächst vorgesehene Jahresproduktion von 1.000 Fahrzeugen verdoppeln. Am Ende seiner Karriere übertraf der 450 SEL 6.9 sogar seinen Vorgänger, den bis 1972 gut 6.500-mal verkauften 300 SEL 6.3. Tatsächlich hatte Mercedes sein neues 6,9-Liter-S-Klasse-Flaggschiff – die Repräsentationslimousine 600 blieb parallel im Programm – bereits im September 1972 angekündigt. Aber wie Daimler-Benz-Chef Hans Scherenberg drei Jahre später zum Marktstart des 6.9 erläuterte, waren dann Kraftstoffknauserer wie neue Diesel und der 230.4-Benziner erst einmal von größerer Bedeutung. Ein geschickter Zug, hatte sich die politische Diskussion um schnelle und starke Autos doch zumindest in Deutschland bis 1975 wieder etwas beruhigt. Und auf den Überholspuren deutscher Autobahnen gab es im Alltagsverkehr tatsächlich keinen Viertürer, der es mit dem 450 SEL 6.9 aufnehmen konnte.

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Nicht einmal die bis dahin schnellste Limousine, der Jaguar XJ12 L, konnte an dem laut Presse bis zu 235 km/h flotten Mercedes vorbeiziehen. Allein in den Absatzzahlen hatte der englische Zwölfzylinder die Nase vorn, spielte dabei jedoch in einer viel tieferen Prestige- und Preisliga. Mit der von Mercedes annoncierten Beschleunigungszeit von 7,4 Sekunden für den Sprint von Null auf Tempo 100 war der über fünf Meter lange und bis zu 2,4 Tonnen schwere Koloss sogar dem Porsche 911 Targa überlegen. Einzig der Monteverdi 375/4 versprach zumindest im Prospekt nochmals geringfügig bessere Viertürer-Fahrleistungen. An einen Rennwagen erinnerte dafür bereits im 450 SEL 6.9 die Trockensumpfschmierung des V8, der in den USA erst ab 1977 ausgeliefert wurde. Wieder wartete Mercedes ab, bis trotz strikten 55-Meilen-Limits erste Smileys die autofeindliche Stimmung aufhellten. Die richtige Entscheidung, denn die Amerikaner liebten den deutschen Autobahnjet so sehr, dass sie sogar Lieferzeiten in Kauf nahmen.

Eigentlich aber ging es Mercedes gar nicht um bestmögliche Fahrleistungen, diese waren eher ein Nebenprodukt bei der Suche nach maximalem Komfort. Dank eines damals beeindruckend starken Drehmomentmaximums von 549 Nm bei nur 3.000 U/min war nicht nur dramatisch viel Durchzugskraft vorhanden, sondern auch eine sehr direkte Hinterachsübersetzung von 2,65:1 möglich. Das erlaubte niedrige Drehzahlen und damit ein kaum wahrnehmbares Motorgeräusch bei entspanntem Dahingleiten – zu dem die Drei-Gang-Automatik und der vibrationsarm laufende V8 ohnehin animierten. Komfort vom Feinsten bewirkte überdies die serienmäßige hydropneumatische Federung mit Niveauregulierung an Vorder- und Hinterachse.

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Ein deutlicher Schritt vorwärts gegenüber der im Vorgänger 300 SEL 6.3 eingesetzten Luftfederung und das Ergebnis von Forschungsarbeiten, die laut Daimler-Benz-Chef Scherenberg bereits in den 1950er Jahren begonnen hatten. Ein Jahrzehnt, in dem Citroen dieses Prinzip in den Typen 15-Six-H und DS aber bereits serienmäßig verwendete. Immerhin konnte die Bodenfreiheit im Mercedes 6.9 nun per Zugschalter an der Armaturentafel um vier Zentimeter verstellt werden. Gut für steile und kantige Tiefgaragenabfahrten in Monte Carlo oder New York und für den Holperweg zum Landsitz.

Rein optisch war der Sechs-Neuner von seinen profaneren S-Klasse-Geschwistern nur durch die breiten Reifen der Dimension 215/70 VR 14 zu differenzieren, denn die damals noch ungewöhnliche Scheinwerfer-Reinigungsanlage gab es optional auch für alle anderen Typen. Überhaupt waren Extras auch beim Sechs-Neuner ein Kapitel für sich. Nach Meinung der Mercedes-Kommunikation ließ die Serienausstattung kaum noch Wünsche offen, waren doch bereits Klimaanlage, Zentralverriegelung und elektrische Fensterheber vom Basispreis umfasst. Dieser betrug anfangs knapp 70.000 Mark und vier Jahre später über 81.000 Mark. So viel wie zwei V8 des Typs 350 SE, mehr als zwei Opel Diplomat V8 und fast so viel wie ein Aston Martin V8. Deutlich teurer waren nur Bentley und Rolls-Royce, denen Mercedes ja weiterhin mit dem Repräsentationsmodell 600 begegnete.

In Großbritannien dagegen waren die englischen Prestigelimousinen auf Augenhöhe des Sechs-Neuners eingepreist. Der hier wie in den USA und in Arabien besonders begehrt war. Bei Bestellung aller Sonderausstattungen ließ sich der Einstiegspreis des 450 SEL 6.9 leicht um die Hälfte erhöhen – und dies noch ohne Individualisierungen wie sie in der Ultra-Luxusklasse üblich sind. Zu den Optionen zählten bereits heutige Selbstverständlichkeiten wie rechter Außenspiegel und Aluräder, aber auch eine damals bis zu 20.000 Mark teure Autotelefonanlage.

Auch das Ende der 1970er Jahre revolutionäre ABS-Bremssystem wurde während der Produktionszeit des S-Klasse-Spitzenmodells lieferbar, bei dem die digitale Revolution ansonsten noch keine Rolle gespielt hatte. Anders dagegen bei der CAD-designten Nachfolge-S-Klasse W 126, die 1979 vorgestellt wurde und im Mai 1980 auch den 450 SEL 6.9 in den Ruhestand schickte. Das Ausnahme-Automobil unter den Hochleistungslimousinen, das nach Ansicht vieler seiner Fahrer und Tester auf der Welt nicht seinesgleichen hatte.

Autor: Wolfram Nickel/SP-X

 

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