Er ist der schärfste Rennwagen, den McLaren diesseits der Formel 1 bislang gebaut hat. Und schon nach der ersten Runde mit dem McLaren 720S GT3 X ist das Grinsen ins Gesicht des Piloten gemeißelt. Doch die Sache hat einen Haken.
Es ist Sonntagmittag im Baskenland und Zeit für ein Hochamt. Nur dass es diesmal nicht in der Kirche gefeiert wird, sondern auf dem Circuito di Navara. Statt himmlischer Glocken hört man ein infernalisches Brüllen. Und statt einem übersinnlichen Wesen gilt es einem diabolischen Überflieger, wie sie ihn selbst hier noch nie gesehen haben. Dabei ist den spanischen Streckenposten so manches schnelle Auto durchs Blickfeld gerast. Doch hier und heute bittet McLaren auf dem kleinen, aber feinen Rundkurs zur Jungfernfahrt mit dem schärfsten Rennwagen, den sie diesseits der Formel 1 bis dato gebaut haben: Garagentor auf und Strecke frei für den McLaren 720S GT3 X.
Dass die schwarze Flunder mutterseelenalleine in der Boxengasse steht, hat gleich zwei Gründe. Zum einen ist der Rennwagen einer von nur 15 Exemplaren, die für Preise jenseits von 700.000 Euro von Handarbeit in der Rennabteilung zu Woking gebaut werden, und bei allem vermeintlichen Vertrauen in den Fahrer wollen sie das Risiko eines folgenschweren Fremdkontaktes auf ein Minimum reduzieren.
Die Spitze von McLaren
Und zum anderen hat er buchstäblich keine Gegner. Denn in großzügiger Ignoranz von Zulassungsvorschriften und Rennregeln gebaut, ist für ihn nicht nur die Straße tabu. Auch in der GT3-Serie hat er so nichts mehr zu suchen. „Wir wollten alles aus diesem Auto herausholen und uns dabei endlich einmal um keine Regeln kümmern müssen“, sagt Chef-Designer Sam Purvis, dessen Team dem ohnehin kaum gezügelten GT3-Rennwagen deshalb auch die letzten Fesseln abgenommen hat. Statt einer Leistungsbegrenzung auf etwa 500 PS für die leidige Balance of Power, gibt es hier schon von Hause aus „deutlich mehr als 700 PS“, verrät Purvis. Und als wäre das nicht genug, findet sich im Lenkrad auch noch ein Push-to-Pass-Button, der für bis zu 30 Sekunden noch einmal 30 PS draufsattelt und zur Aufmunterung „Go Baby, Go!“ über die Instrumente flirren lässt. Als würde es bei so einem Auto noch einer Aufmunterung bedürfen.
Dazu gibt es schärfere Splitter und größere Spoiler und am Heck einen Diffusor, der den Schlund zur Hölle wie einen Schleichweg in den Himmel aussehen lässt. Das zahlt sich aus: Kein anderer McLaren ist so scharf und schnell, schwärmen die Ingenieure und können noch immer kaum glauben, dass ihr GT3X dieses Jahr den famosen Hill Climb in Goodwood gewonnen hat oder dass er hier auf dem Circuito einem normalen GT3 die Ewigkeit von fünf Sekunden abnimmt.
Das Auto mag völlig entfesselt sein, doch für den Fahrer gilt das Gegenteil. Denn als wären Helm und Hans nicht schon unkommod genug und der Überrollkäfig ein hinreichend enges Klettergerüst, verschnüren die Mechaniker den Fahrer obendrein so fest in seinem engen Sitz, dass ihm auch noch die letzte Luft aus der Lunge fährt. Ein Überseepaket ist dagegen locker verpackt und Fesselspiele mit einer Domina haben im Vergleich dazu etwas vom Kindergarten. Den Kopf ein paar Grad nach links und rechts, die Arme ein paar Zentimeter auf und ab, gerade genug zum Lenken, und die Beine noch so beweglich, dass irgendwo da vorne die Füße auch die Pedale finden – mehr Spielraum braucht es bei dieser Raserei gar nicht.
Dann nur noch das Rennlenkrad auf die Nabe stecken und die Tür ohne Kopfnuss ins Schloss fallen lassen, dann plumpst der von der Boxencrew mit Hydraulikstößeln aufgebockte Rennwagen auf den Asphalt und der Startknopf weckt den 4,0 Liter großen Achtzylinder im Nacken zum Leben. Bis ihn der Fahrer gleich wieder abwürgt. Denn ab dem zweiten Gang sequentiell geschaltet, braucht es zum Anfahren noch die Kupplung – und mehr Drehzahl als man für möglich hält. Unter 4.000 Touren geht gar nichts und erst jenseits von 5.000 Touren rollt der GT3X ohne Ruckeln aus der Boxengasse.
Doch dann deaktiviert der Co-Pilot den Boxen-Tempomat, der den Tiefflieger auf 50 km/h limitiert, der rechte Fuß senkt sich und binnen weniger Augenblicke stürzt das bisher gelernte Koordinaten-System aus Längs- und Querbeschleunigung in sich zusammen. So kann der Tanz mit der entfesselten Furie beginnen.
Schon auf dem kümmerlichen Rest der Start-Ziel-Geraden schaltet die Welt da draußen in schnellen Vorlauf und die kleine Tribüne verschwimmt im Augenwinkel. 150, 200, 250 km/h. Statt zu bremsen, bleibt man weiter auf dem Gas, schaltet noch schnell einen Gang hoch und steigt erst ganz kurz vor dem Einlenkpunk in die Eisen. Schließlich haben die Karbon-Keramik-Scheiben eine Wirkung wie ein Anker und stemmen sich mit einer unglaublichen Wucht der Schwerkraft entgegen. Genau übrigens wie die blanken Pirellis, die der Profi vorher eigens warm gefahren hat. Mit einem Grip, als wären sie von Pattex, schießt der GT3X deshalb durch die Kurven, drängt keinen Millimeter nach außen und folgt einer Linie, von der man in einem Straßenauto nicht mal zu träumen wagen würde – selbst wenn es ein 765 LT sein sollte. Enger kann man den Kurs kaum nehmen, und schneller auch nicht. Vor allem, wenn neben den Reifen auch der Fahrer warm ist und ihm die trickeiche Strecke geläufig wird. Klack, Klack, Klack im Stakkato schaltet das Getriebe, während die LED-Blöcke des Drehzahlmessers im digitalen Cockpit blitzen wie die Strobos in der Techno-Disco, bamm, bamm, bamm hämmert der Fuß zwischen Gas und Bremse und mit minimalen Lenkbewegungen lässt sich der GT3X um den Kurs treiben und wirkt dabei so präzise wie das Skalpell eines Chirurgen – und natürlich genau so scharf.
Und wenn die Haftung doch mal abreißt, lässt er sich erstaunlich einfach wieder einfangen – selbst so ganz ohne Netz und doppelten Boden ist dieser Zweisitzer ein gutmütiges Auto. So gutmütig ein Tiefflieger von 720 PS und kaum mehr 1.200 Kilo, mit stahlhartem Fahrwerk und messerscharfer Lenkung und Bremsen mit der Stoppwirkung einer Panzerfaust eben sein kein.
Doch als es gerade so richtig schön rund läuft, der Co-Pilot endlich aufhört zu nörgeln und mal zwei Kurven in Folge halbwegs ordentlich gelingen, flattert nach zehn Runden und einer gefühlten Ewigkeit plötzlich die Zielflagge über die lange Gerade und der Beifahrer weist unmissverständlich in die Box. Drei Liter Schweiß ärmer, dafür aber um viel Adrenalin reicher, folgt der Fahrer nur widerwillig den Anweisungen und kann kaum vom Lenker lassen: Ja, die Arme brennen, der Rücken schmerzt, die Ohren dröhnen und im Oberstübchen fühlt es sich so an, als hätte man den Kopf einen Vollwaschgang lang in die Waschmaschine gesteckt. Doch auf der Netzhaut hat sich das Kommando „Go Baby, go!“ eingebrannt und ins Gesicht ist ein Grinsen gemeißelt, das für die Ewigkeit gemacht ist.
Klar ist es frustrierend, dass die Fahrt schon wieder vorbei ist. Und dass so eine Gelegenheit wohl nie wieder kommen wird. Und selbst wenn, ist diesem 720S jeder Sieg als Bestätigung versagt. Aber das wird die 15 stolzen Besitzer nicht stören, und eine solche Bestätigung brauchen sie auch nicht. Denn wer es hier hinters Steuer geschafft hat, der muss sich mit niemanden mehr messen, sondern ist schon von Hause aus ein Gewinner. Erst recht an einem Sonntagmittag allein auf einer Rennstrecke in Spanien.