Panorama: Mercedes S-Klasse mit Drive Pilot
Die S-Klasse wird zum Job-Killer, ihr „Drive Pilot“ macht den Chauffeur überflüssig. Noch darf das System zwar nur selten ans Steuer. Doch die neuen Freiheiten sind groß – und das Gefühl ist spektakulär.
„Ja, wir sind die Stauer, wir stehen auf Stau, wir finden jeden Stau eine Schau.“ Wenn tatsächlich mal Mike Krügers „Stauerparty“ im Radio läuft, wechseln die allermeisten den Sender. Doch Männer wie Jochen Haab drehen den Song sogar lauter. Denn der Ingenieur entwickelt für Mercedes die nächste Generation des Drive Pilot, mit dem die Schwaben zum Ende des Jahres erst in der neuen S-Klasse und kurz darauf im EQS dem Stau gar vollends den Schrecken nehmen wollen.
Denn als erstes System nach dem so genannten „Level 3“ will er näher am autonomen Fahren sein als jeder andere Autobahn-Assistent am Markt. Zwar sind die Entwickler noch beim Feinschliff und haben den Verkauf noch nicht freigegeben, doch klappt das Ganze schon so gut, dass Haab heute zum ersten Mal einen Gast auf den Fahrersitz lässt. Und statt mit der Navigation um jeden Stau herum zu kurven, schickt er den Testwagen mittenrein.
Wie Abstandsregler
Kaum wird der Verkehr dichter und das Tempo geringer, gehen im Lenkrad deshalb zwei weiße LED an und in der dreidimensionalen Grafik dahinter taucht unübersehbar ein großes „A“ auf. Dann drückt man einen der beiden Taster um die Leuchtdioden, die LED wechseln auf Türkis, es blinkt kurz und sobald es dauerhaft schimmert, werde der Fahrer zum Passagier. Denn genau wie man es von Distronic & Co mit ihrer automatischen Regelung von Abstand und Spur kennt, übernimmt jetzt der Drive Pilot das Kommando.
Nur dass man vergebens auf das rote Blinklicht oder den Warnton wartet, der einen wieder in die Pflicht nimmt. Es kommt nicht nach 20, 30 oder 60 Sekunden und auch nicht nach 3 oder 5 Minuten, sondern solange die S-Klasse im Stau steckt, braucht sie den Fahrer zum Fahren nicht mehr.
Anfangs ziemlich aufgeregt, mit dem Fuß nur einen Hauch über der Bremse und den Händen in Griffweite des Lenkrads, folgt der Fahrer gespannt dem Geschehen und rechnet jeden Moment mit dem Ende der Freifahrt. Denn wer bei bisherigen Systemen nicht reagiert, riskiert eine Notbremsung und bleibt im Zweifel mitten auf der Autobahn stehen. Doch je länger die Warnung und die Aufforderung zur Übernahme ausbleiben, desto mehr beruhigt sich der Puls, der Atem normalisiert sich und Füße und Hände gehen auf Distanz zum Auto.
Fahrer darf andere Dinge machen
Wo die Elektronik den Fahrer bislang nur unterstützt und entlastet, will ihm Daimler mit der neuesten Softwaregeneration tatsächlich Freiheit und Freizeit schenken. Zwar gibt es den so genannten Abstandsregeltempomaten, der mit einem Eingriff in Lenkung, Gas und Bremse alleine Spur, Abstand und Tempo regelt, längst bis in die Kompaktklasse. Doch anders als in diesen so genannten Level2-Systemen muss der Fahrer hier nicht in regelmäßigen Abständen die Hände ans Lenkrad nehmen, sondern kann sie dauerhaft in den Schoß legen und sich anderen Dingen zuwenden. „Das ist der nächste große Schritt zum autonomen Fahren“, sagt Projektleiter Gregor Kugelmann und feiert die S-Klasse mit Drive-Pilot als erstes Serienauto, das „Level 3“ erreicht.
Knapp ein halbes Jahr, nachdem Deutschland als erstes Land den gesetzlichen Rahmen für die nächste Stufe des autonomen Fahrens abgesteckt hat, geht Mercedes damit in Pole Position. Dabei profitieren die Schwaben auch vom Zaudern der anderen. Denn Audi hatte ein vergleichbares System bereits vor vier Jahren zur Premiere des damaligen A8 fertig, hat mittlerweile aber die Geduld verloren und das Thema abgehakt. Und BMW hat die nötige Technik zwar für den neuen iX in der Hinterhand, sieht aber noch nicht den nötigen Nutzen, der den hohen Aufpreis rechtfertigt.
Einsatzbereitschaft des Fahrers durch Kamera kontrolliert
Denn natürlich hat die Sache noch einen Haken: So erlaubt die Politik die Level3-Systeme aktuell nur auf der Autobahn im zähfließenden Verkehr bis Tempo 60 und ohne automatischen Spurwechsel. Und weil der Hersteller zum ersten Mal die Verantwortung für mögliche Fahrfehler übernimmt, ist Mercedes nicht minder streng: Bei Nacht und Nebel, ja sogar bei Nieselregen quittiert der Drive Pilot deshalb genauso den Dienst wie bei Temperaturen nahe des Gefrierpunktes, in Baustellen oder Tunneln.
Und weil der Fahrer im Zweifelsfall mit einer Vorlaufzeit von maximal zehn Sekunden Vorwarnung wieder übernehmen muss, kontrolliert eine Kamera ständig seine Einsatzbereitschaft. Surfen oder Schwatzen ist erlaubt, schlafen ist aber genauso verboten wie dauerhafter Blickkontakt mit den Hinterbänklern.
Für den nahezu autonomen Assistenten nutzen die Schwaben neben den ohnehin im Auto montierten Kameras und Radarsensoren vor allem eine dramatisch verbesserte Stereo-Kamera, den Lidarsensor hinter dem Kühlergrill und eine besonders hochauflösende Navigationskarte, für die sie eigens eine neue GPS-Antenne wie eine Schogette aufs Dach gepappt haben. Außerdem schaut eine Kamera nach hinten und die Innenraummikrophone sind besonders hellhörig. Beides ist nötig, um Einsatzfahrzeuge zu erkennen, angesichts derer der Drive Pilot die Verantwortung sicherheitshalber schnell wieder an den Fahrer abgibt.
Denn wenn es mehr braucht als die ohnehin einprogrammierte Rettungsgasse, wenn zum Beispiel Linien überfahren oder Abstände missachtet werden müssen, um die Feuerwehr vorbeizulassen, steht der Elektronik die immanente Regeltreue im Wege.
Genügend Zeit für den Fahrer sich auf die Situation einzustellen
Bis zu zehn Sekunden hat der Fahrer dann in der Regel Zeit, den Knopf im Lenkrad zu drücken oder das System mit Gas und Bremse zu übersteuern und wieder tätig zu werden. Das klingt nicht nach viel, zumal das Auto in dieser Zeit bei Tempo 60 immerhin fast 170 Meter zurücklegt. Doch selbst wenn man eine Schrecksekunde abzieht, bleibt dem Fahrer genügend Zeit, seine Sinne zu sammeln, die Situation zu erfassen und Verantwortung zu übernehmen.
Lieber Videos auf dem Handy anschauen statt zu fahren
Kaum ist die Situation geklärt, meldet sich der Drive Pilot allerdings sofort wieder zurück und mit einem Knopfdruck wird der Fahrer erneut zum Passagier. So vergeht der Feierabendverkehr wie im Flug und wenn der ADAC für das letzte Jahr trotz Corona-Lockdown und Pandemie-Pause 513.500 Staus mit einer Länge von 679.000 Kilometern und einem Zeitverlust von 256.000 Stunden registriert hat, dürfte der Autopilot trotz seiner eingeschränkten Befugnisse auch in Zukunft gut zu tun haben.
Jochen Haab kann deshalb gut damit leben, wenn sein neues Lieblingslied nicht ganz so oft im Radio läuft. Hat er doch jetzt selbst am Steuer genügend Gelegenheit, den Song im Netz zu suchen – und kann sich dann während der Fahrt sogar das Video dazu anschauen.
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