Ring der Rekorde

Das Urmeter für Sportwagen mag zwar der Nürburgring sein. Doch wenn es weniger um Handling geht als um Highspeed, dann ist das italienische Nardò die erste Adresse. Denn ganz unten am Absatz des Stiefels haben sie vor über 40 Jahren eine der längsten Kreisbahnen der Welt angelegt und dort schon ziemlich alle Tempo-Rekorde gebrochen.

Diesen Blick wird Nick Heidfeld so schnell nicht vergessen. Zwar hat der Formel 1- und Formel E-Pilot schon so einige Strecken gesehen. Doch wenn er auf dem Handling-Kurs auf dem Testgelände in Nardò nach drei Kurven über die erste Kuppe schießt, stockt ihm regelmäßig der Atem – denn statt der Curbs und des Kiesbetts breitet sich plötzlich das Mittelmeer vor den Augen aus und für den Bruchteil einer Sekunde denkt man eher ans Baden als an Bestzeiten.

Dumm nur, dass man in Nardò an der Südspitze des italienischen Stiefelabsatzes meist nicht einmal diesen Bruchteil einer Sekunde hat. Denn das hier ist nicht irgendeine Teststrecke. Nardò gilt nicht umsonst als Ring der Rekorde. In den 1970ern gebaut und von einer 12,6 Kilometer langen Kreisbahn umgeben, ist sie die Hochgeschwindigkeitsstrecke schlechthin. Die 360-Grad-Piste mit einem Durchmesser von vier Kilometern ist exakt so weit nach innen geneigt, dass die Zentrifugalkraft ausgeglichen wird und sich eine Kurve anfühlt wie eine Gerade, bis Tempo 240 bleibt das Lenkrad in diesem Kreis gerade. Wenn es um Fahrwerk, Abstimmung, Haltbarkeit und Handling geht, mag der Nürburgring in der Eifel das Maß der Dinge sein. Doch wer auf Highspeed aus ist, der kommt deshalb hierher. Nicht umsonst sitzt Heidfeld hier demnächst am Steuer des Pininfarina Battista, der mit seinen 1.900 PS zum ersten Hypercar der Akku-Ära werden und alles überholen will, was die Verbrennerwelt bis dato auf die Räder gestellt hat. Und nicht ohne Grund scharren auf der unscheinbaren Zufahrt zum ziemlich abgelegen Testgelände schon mattschwarz lackierte Bugatti, McLaren im Tarnkleid der Erlkönige und ein halbes Dutzend wild beflügelter Porsche 911 nervös mit ihren ebenso breiten wie profillosen Reifen und machen die Landstraße auf dem Weg zum Testgelände zum Laufsteg der eitlen Eiligkeiten. Und in den Hallen auf dem weitläufigen Areal hört man überall das Knistern heißt gefahrener Auspuffanlagen und riecht die glühenden Bremsscheiben, wenn die Boliden nach ihren Hotlaps auskühlen.

Eröffnet wurde das Areal am 1. Juli 1975 als Società Autopiste Sperimentali Nardò von Fiat – schon damals umgeben von der spektakulären Kreisbahn, die man selbst aus dem Flieger nach Sizilien erkennen kann. Außerdem hatte Fiat einen Überwachungsturm erreichtet, eine Dynamikfläche, zwei Werkstätten und einen Verwaltungsbau. Heute ist das Areal ein wenig besser ausgestattet: 2012 von Porsche Engineering übernommen, seitdem nüchtern als Nardò Technical Center geführt und zuletzt 2019 kräftig modernisiert, bietet es neben Dutzenden Werkstätten, Klimakammern und Abgas-Prüfständen noch zahlreiche weitere Teststrecken vom großen 6,2 Kilometer langen Handling-Parcours mit seinen 16 Formel1-tauglichen Kurven über die Marter-Pisten bis hin zu einem großen Offroad-Areal. Und noch etwas hat Nardò vielen anderen Teststrecken und vor allem der Eifel voraus, schwärmen die Platzwarte von Porsche: „Das Klima ist durchgehend mild mit wenig Regentagen und kaum Frost. So kann das Gelände in Nardò praktisch das ganze Jahr über für Testfahrten genutzt werden.“

Die Industrie macht davon reichlich Gebrauch, und selbst wenn längst nicht alles kommuniziert wird, was auf der Kreisbahn im Süden die Kurve kratzt, kommen immer wieder spektakuläre Nachrichten aus Nardò. Die erste ist von 1977, als Niki Lauda den Prototypen eines Formel1-Rennwagens mit sechs Rädern testet, weil sie in Maranello die Aerodynamik optimieren wollen. Zwei Jahre später knackt Mercedes mit einer Evolution des C111 zum ersten Mal die 400 km/h-Marke, erreicht eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 403,978 km/h und umrundet den Ring in 1:57 Minuten.

Ähnlich spektakulär wirkt der ARVW, der „Aerodynamic Research Volkswagen“, mit dem die Niedersachsen dem C111 die Schau stehlen und Spritsparen attraktiv machen wollten: Nicht mal 1,20 Meter breit, dafür aber über fünf Meter lang war der Einsitzer angetrieben von einem mit 177 PS nicht wirklich spektakulär getunten Sechszylinder-Diesel aus einem LT-Transporter und stellte bei seinem Debüt 1980 gleich sechs Klassen- und zwei Weltrekorde auf: Mit dem wagemutigen Formel 1-Rennfahrer Keke Rosberg am Steuer erreichte der ARVW, dank perfektionierter Aerodynamik und trotz relativ geringer Motorleistung, bemerkenswerte 362 km/h. Der Durchschnittsverbrauch lag hier bei 13,6 l/100 km. Bei konstant 250 km/h sank er auf 6,5 l/100 km. Wieder zwei Jahre später fuhr Porsche mit dem damals neuen 928 S einen 24-Stunden-Rekord mit einem Schnitt von 251,4 km/h ein und 1983 umrundete ein Mercedes 190 2.3-16 mit einer 50.000 Kilometer-Fahrt die Welt in 201 Stunden, 39 Minuten und 43 Sekunden.

Natürlich sind Ferrari und Alfa, Lamborghini oder Pirelli ständig im Süden ihrer Heimat unterwegs. Aber auch die VW-Manager schätzen die schnelle Runde am Absatz Italiens. Selbst wenn sie vor den Toren Wolfsburgs mit Ehra-Lessien ihr eigenes Testgelände haben und dort über eine so schnelle Strecke verfügen, dass der Bugatti Veyron seinen Rekord als damals schnellstes Serienauto der Welt 2010 mit 417,9 km/h in Niedersachsen aufgestellt hat, steht Nardò bei den VW-Oberen besonders hoch im Kurs. Nicht nur, dass die Herren Winterkorn und Piech hier Stammgäste waren und wahrscheinlich das Zeug zu Ehrenbürgern hätten, sondern VW ist auch der einzige Hersteller, der Nardò ein rollendes Denkmal gesetzt hat. Denn während andere Marken allenfalls Farben nach der Teststrecke benennen, haben die Wolfsburger auch mal einer Studie den Namen des Rundkurses gegeben. Kein Wunder, schließlich hat der VW „Nardò“ mit seinem 600 PS starken W12-Motor hier 2002 den 24-Stunden-Rekord gebrochen und 740.576 km mit einem Tempo von 322.891 km / h absolviert.

Das ist jetzt zwar auch schon wieder fast 20 Jahre her und mittlerweile fragt kaum mehr jemand nach Zwölfzylindern, Turbos und Drehzahlorgien. Doch auch wenn die Autowelt gerade in einem größeren Umbruch ist als je zuvor, hat in Nardò niemand Angst vor der Zukunft und davor, dass sie vielleicht bald keine Teststrecken für extreme Geschwindigkeiten mehr brauchen.

Denn selbst wenn das Röhren von Bugatti & Co tatsächlich bald verstummen sollte, steht mit Autos wie dem Pininfarina Battista eine neue Generation elektrischer Supersportwagen bereits in den Startlöchern. Und in Nardò sind sie dafür längst gerüstet – denn spätestens seit Hausherr Porsche hier vor zwei Jahren die finalen Dauerläufe mit dem Taycan absolviert hat, gibt es auf dem Areal mehr Ladesäulen als wahrscheinlich im ganzen Rest von Apulien.

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