Als Schäfer auf dem Mercedes-Testgelände

Fahrwerker, Aerodynamiker, Spezialisten für Motoren oder Batterien – auf dem Mercedes-Testgelände in Immendingen arbeiten Experten aus zahlreichen Disziplinen. Doch wohl keine ist so exotisch, wie die von Alexander Zonta. Denn mit Autos hat sein Job buchstäblich nur am Rande zu tun.

Seinen Job verdankt er rund 100 Schafen, die auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz leben und Teil des ausgeklügelten Umweltplans sind. Denn auch Daimler hier für 200 Millionen Euro bald 100 Kilometer neuer Straßen angelegt, Werkstatt- und Verwaltungsgebäude gebaut, Offroad-Pisten durch die Hügel gepflügt oder Drift- oder Handlingflächen bis zum Horizont asphaltiert hat, gibt es auf dem Areal schier endlose Heiden, Mager- oder Streuobst-Wiesen, Hecken und Wälder, die alle zu erhalten sind. Und während der Werkschutz das Gelände für Menschen mit meterhohen Zäunen hermetisch abgeriegelt hat, wurden sogar eigene Wildbrücken gebaut, über die Fuchs und Hase nicht nur zum Gute-Nacht-Sagen herein kommen. Selbst die ersten Luchse fühlen sich dort jetzt wieder heimisch.

Seit der Uni Schafe

Zonta ist mit seinen 59 Jahren zwar der einzige Schäfer in Daimlers Diensten, kann aber selbst davon nicht leben. Auch wenn er jeden Morgen und jeden Abend mindestens zwei Stunden bei seiner Herde verbringt, ist die Schäferei für ihn ein Hobby. Das hat schon früh begonnen, als der der studierte Walldorf-Pädagoge und Landschaftsgärtner an der Uni die Patenschaft für vier Schafe übernommen hat, die irgendwann einmal zu viel waren. Daraus sind mittlerweile rund 150 Tiere geworden, mit denen er seit Jahren für die Untere Naturschutzbehörde der Region Teile des Schwarzwaldes beweidet. Als Daimler dann den ehemaligen Truppenübungsplatz in Immendingen übernommen und zum Testgelände umgebaut hat, kam er ins Spiel – zumal für das Areal auch im laufenden Prüfbetriebs strenge Naturschutzauflagen gelten. 

„Natürlich kann man die Wiesen, Wälder und Heide-Flächen auf dem Gelände auch maschinell pflegen“, räumt Zonta ein. „Aber das ist extrem aufwändig und sehr teuer.“ Seine Schafe seinen da nicht nur billiger, sondern auch noch besser, fressen neben dem Gras auch die Büsche und beugen so der Versteppung vor: „Das sind die geborenen Landschaftsgärtner“, sagt der Schäfer, während sein Blick auf der Suche nach dem ersten frischen Gras der Saison über die sanften Hügel vor dem fernen Schwarzwald-Panorama gleitet.

Lamas sind auch dabei

Und die haben auf dem Areal gut zu tun. Zwar sind bislang nur 10 der über 500 Hektar des Areals offizielle Weideflächen, doch schon daran haben die Schafe, die Zonta natürlich alle beim Namen kennt ordentlich zu kauen. Und sie sind dabei nicht allein: Zum Schutz vor den vielen Füchsen und Greifvögeln, die auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz wieder heimisch sind, hat er sechs Lamas unter die Herde gemischt. Groß und furchteinflößend stehen sie zwischen den Schafen und schlagen schon mit ihrem Anblick jeden Angreifer in die Flucht. „Und wenn es doch mal ein Fuchs oder gar ein Wolf versuchen sollte, hätten die keine Chance“, ist Zonta überzeugt.

Noch haben seine Schafe Winterpause, stehen die meiste Zeit im Stall am Rande der Landstraßen-Runde und grasen nur bisweilen auf einer der trockenen Wiesen drum herum. Doch spätestens im Mai beginnt wieder die offizielle Beweidung und Zonta führt sie rauf aufs Gelände, pflockt eine der Magerwiesen ab und lässt die 120 Tiere ihren Job machen. Und jedes Mal, wenn sie umziehen, ruht sogar kurz der Testbetrieb und die Prototypen machen Pause, damit die Herde gefahrlos über die Straßen kommt.

Extra leichte Schafe

Genau wie die Prototypen sind um sie herum sind die Schafe von der besonderen Sorte: Weil der Schäfer nicht auf ihr Fleisch oder ihre Wolle aus ist und selbst jetzt zu Ostern kein Lamm sein Leben für einen guten Braten lassen muss, sondern Zonta nur den Landschaftsschutz im Sinn hat, will er zurück zum Ur-Schaf. Denn mit seinen 40 bis 60 Kilogramm das ist nur halb so schwer ist und belastet deshalb den Boden weniger stark. Dafür hält er eigens einen Mufflon-Bock, der ein entsprechend erfülltes Liebesleben führt und die Evolution mit jeder neuen Generation an Schafen wieder ein paar Kapitel zurück dreht: Während auf den Straßen des Testgeländes die Zukunft in Fahrt kommt, geht es auf den Wiesen drum herum also Jahr für Jahr ein Stückchen weiter in die Vergangenheit. „Aber so ein, zwei Dekaden wird es wohl noch dauern, bis wir wieder bei den urtümlichen Schafen von früher sind“, sagt Zonta und verbindet damit auch die Hoffnung auf etwas mehr Freizeit. Denn während er die modernen Zuchtschafe noch regelmäßig scheren muss, wechseln die wilden Tiere ihr Fell von selbst. Ein wenig Entlastung hat ihm ausgerechnet die Corona-Pandemie bereits gebracht. Denn während alle Welt über den Lockdown stöhnt und über das Homeschooling schimpft, freut er sich über seinen jungen Gehilfen Noel, der beim Sonntagsspaziergang hängen geblieben ist und während seiner digitalen Schulzeiten mittlerweile täglich vorbeikommt, um nach den Tieren zu sehen. 

Hier die Herde aus dem Stall des echten Schäfers und dort das Heer von Entwicklern aus dem Ressort des wahren Schäfers – in Immendingen pflegen sie eine friedliche Koexistenz: Nicht nur, dass es bis dato noch nie einen Unfall mit den Tieren gegeben hat und keinen unfreiwilligen Elch- bzw. Schafstest. Längst heben die Schafe nicht einmal mehr dann den Kopf, wenn auf dem Hochgeschwindigkeitsoval neben der Weide eine Formation von AMG-Boliden mit bollernden Achtzylindern vorbeifliegt. Zumal das ohnehin immer seltener der Fall ist. Denn je mehr Elektroautos Mercedes auf den Weg bringt, desto stiller wird es auch hier in den Hügeln oberhalb von Immendingen – und die Schafe brauchen kein ganz so dickes Fell mehr.

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